M. Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit

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Titel
Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt


Autor(en)
Fenske, Michaela
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Dorothee Rippmann

Die hier anzuzeigende Untersuchung zu Hildesheim entstand im Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie der Georg-August-Universität Göttingen. Fenske postuliert «Marktforschung als Kulturforschung» (Kap. 1), in Abkehr von der traditionellen Wirtschaftsgeschichte, mit deren Ansatz, ökonomische Transaktionen als isolierte, womöglich ‘objektive’ Fakten zu betrachten. Die methodisch auf der Mikroebene ansetzende Analyse der lebensweltlichen Phänomene der Interaktionen auf dem Markt beruht hauptsächlich auf einer umfangreichen Serie von Jahrmarktsprotokollen aus der Feder des Stadtgerichtsschreibers (1646–1717). Die nach dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs wiederbelebten Jahrmärkte in H., einer Stadt mit kleingewerblich-agrarisch geprägter Wirtschaft, verortet Fenske in dem Netz von 60 Marktorten im mittleren und südlichen Niedersachsen, wobei sie dem ‘spacial turn’ und der Raumkulturforschung Rechnung trägt (Kap. 2). Ihre These lautet, dass die Ereignisse selbst den Raum konstituieren. Denn weniger die naturräumlichen Voraussetzungen als viel mehr soziales Handeln sind massgebliche Koordinaten der Raumorganisation.

Fenskes Erkenntnisinteresse ist auf den Kontext gerichtet, d.h. die mit dem Handel verbundenen sozialen Interaktionen zwischen Einheimischen und Fremden, Bauern und Städtern, Händlern und Käufern, Christen und Juden (im 17. Jh. gab es in H. eine jüdische Gemeinde). In der Art «dichter Beschreibung» beobachtet sie die Handlungsspielräume, Motive und Handlungsmuster der Akteure. Das nicht-alltägliche Ereignis des Markts bildet in der Studie eine Art Fenster, durch das allgemein-gesellschaftliche Verhältnisse in Augenschein genommen werden. Der Viehmarkt gab v.a. die Bühne für männliches Handeln ab, da Frauen kaum aktiv im Viehhandel tätig waren. Fenske verfolgt das «Feiern» in den Zelten der Bierkrüge, wo es zu verbalen Provokationen, Konfrontationen und zum Austragen von Ehrkonflikten kam und junge Männer ihre Männlichkeit ostentativ unter Beweis stellten (Kap. 3). Die notorischen Ehrkonflikte sowie die allseits hohe Gewaltbereitschaft beleuchten schlaglichtartig die Verwerfungen innerhalb der Stadtgesellschaft und den potentiellen Zündstoff zwischen den städtischen Ordnungskräften einerseits und den Marktbesuchern andererseits (Kap. 4). Die Konfliktlinien werden anhand von Fallbeispielen erläutert. Ein grundlegender Interessenskonflikt resultierte aus dem Kondominium der (lutherischen) (Alt-)Stadt einerseits und des Herrn über die Neustadt und das (katholische) Umland, den Dompropst, andererseits. Jedes Mal standen die Machtverhältnisse in H. erneut auf Probe. Sowohl das Ratsregiment als auch der Dompropst (auf dessen Hoheitsgebiet das Marktgelände lag; er war der Vertreter des in Köln residierenden Fürstbischofs und Landesherrn) benutzten die Gelegenheit, ihre Hoheitsrechte zu verteidigen und Herrschaft im öffentlichen Raum zu inszenieren. Als städtisches Sondergericht befasste sich das mit Ratsherren besetzte Marktgericht mit Ordnungswidrigkeiten, es war Gerichts- und Schiedsinstanz.

Auch barg das fortwährende Sonderbewusstsein der politisch vereinten Altstadt und Neustadt Konfliktstoff. Das Kampfvokabular, mit dem die Gegner einander als bürgerlich-prahlerisch bzw. grob-bäurische Tölpel titulierten, deutet auf die anhaltende Aktualität des Stadt-Land-Gegensatzes und die Abgrenzungsbedürfnisse der Bürger. Stabilisierend wirkte auf das gespannte Verhältnis der beiden «Teil-Städte», dass sie gegenüber dem Propst und dem fernen Landesherrn als politische Einheit auftraten und versuchten, über den Markt den Einfluss auf das Umland auszudehnen. Fenskes Ausführungen zu diesem Aspekt und zur Konfliktkultur sind angesichts der von ihr umsichtig rezipierten neueren Frühneuzeit-Forschungen kaum überraschend.

Hingegen dürfen die in den Kapiteln 5 und 6 vorgelegten Befunde zum Kernthemades Viehhandels und seiner informellen Regelmechanismen besondere Originalität beanspruchen. So werden die Probleme von Pferde- und Viehhaltung wiederum Akteurs-zentriert aufgezeigt. Vertrauen erweist sich als Schlüsselkategorie ökonomischen Handelns; denn ohne Vertrauensbasis war das Geschäft mit der anspruchsvollen Lebendware nicht durchführbar. Es war umso risikoreicher, als Verkäufer und Käufer einander u. U. gar nicht kannten und Verlässlichkeit und Zahlungskraft des Handelspartners schwer einzuschätzen waren. Um sich abzusichern, übten die Akteure diverse Praktiken des Risikoausgleichs. Zum Beispiel eröffneten der Kauf auf Kredit und Teilzahlungen dem Käufer die Aussicht, den Verkäufer wegen nachträglich entdeckter, wertmindernder Krankheiten und Mängel zu behaften und ihn allenfalls vor das Marktgericht zu ziehen. Als zentrale Kategorie der «Kultur der Marktgesellschaft» sieht Fenske das Feilschen. Als Fazit unterstreicht sie, dass Handel durch soziale Bindungen und aufgrund allgemeiner Werthaltungen in der ständischen Gesellschaft abgesichert wurde. Zwar wirkte die Obrigkeit reglementierend und disziplinierend, doch umfasste ihre Rolle gleichermassen Funktionen des sozialen Ausgleichs. «Was am Ende übrig bleibt» (Kap. 7): Der Markt erweist sich als ein Spiegel der Gesellschaft, insbesondere als ein Ort, in dem in Hildesheim periodisch die Stadt-Land-Beziehungen realisiert und aktualisiert wurden.

Zitierweise:
Dorothee Rippmann: Rezension zu: Michaela Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt. Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, S. 112-113.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, S. 112-113.

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